Psalm 91
Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht im Schatten des Allmächtigen. Der sagt zum Herrn: «Du bist für mich Zuflucht und Burg, mein Gott, dem ich vertraue.» Er rettet dich aus der Schlinge des Jägers und aus allem Verderben. Er beschirmt dich mit seinen Flügeln, unter seinen Schwingen findest du Zuflucht, Schild und Schutz ist dir seine Treue. Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten, noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt, nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag. Fallen auch tausend zu deiner Seite, dir zur Rechten zehnmal tausend, so wird es doch dich nicht treffen. Ja, du wirst es sehen mit eigenen Augen, wirst zuschauen, wie den Frevlern vergolten wird. Denn der Herr ist deine Zuflucht, du hast dir den Höchsten als Schutz erwählt. Dir begegnet kein Unheil, kein Unglück naht deinem Zelt. Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie tragen dich auf ihren Händen, damit dein Fuss nicht an einen Stein stösst; du schreitest über Löwen und Nattern, trittst auf Löwen und Drachen. «Weil er an mir hängt, will ich ihn retten; ich will ihn schützen, denn er kennt meinen Namen. Wenn er mich anruft, dann will ich ihn erhören. Ich bin bei ihm in der Not, befreie ihn und bringe ihn zu Ehren. Ich sättige ihn mit langem Leben und lasse ihn schauen mein Heil.»
Kurzgedanke
Manch einer von uns tut in diesen Tagen Dinge, die er und sie seit langem nicht mehr getan hat. Die einen greifen unerwartet zum Füllfederhalter und tauchen in das Experiment ein, einem Bekannten wieder mal – vielleicht seit vielen Jahren zum ersten Mal – ein paar nette Zeilen zu schreiben. Ein geschriebenes Wort – es bleibt länger sichtbar und kann immer neu gelesen, neu gehört werden. Andere holen aus einer tiefen Schublade eine vergessene Farbschachtel hervor, vielleicht sogar jene der Kinder, und wagen sich an das Ausmalen irgendwelcher vorhandener Drucke oder erfinden ganz einfach selbst ein Ausmalbild oder Mandala. Und während der Farbstift so über das Blatt mit leichtem Geräusch dahingleitet, entsteht im Innern des Ausmalenden etwas Ruhendes, Beschauliches, vielleicht sogar Meditatives. Wieder andere betrachten seit Jahren ein erstes Mal ernsthaft, welche Bücher sich da eigentlich im Regal befinden. Viele davon waren längst vergessen und dienten daher wohl eher zur hübschen Dekoration. Das eine oder andere Buch hingegen lädt zum Verweilen ein. Manches zum Betrachten, andere zum Lesen. So auch die Bibel. Die wenigsten Bibeln in unseren Regalen, mal von jenen der Kinder abgesehen, sind mit Bildern ausgestattet, was unweigerlich dazu führt, dass sie weniger betrachtet, als vielmehr gelesen werden. Aber Bibel lesen einfach so? Nach so vielen Jahren der Abstinenz? Ja, und überhaupt: Wie soll man sie lesen, nach welchen Kriterien denn? Kann man da auch was Falsches machen? Nicht eigentlich. Natürlich kann man dazu Empfehlungen folgen. Deren gibt es viele und diese machen durchaus Sinn. So laden sie zum sorgfältigen Vorwärtskommen in der Heiligen Schrift ein. Sie zeigen, wie «Lesefallen» oder schwer zu verstehende Abschnitte angegangen werden können. Oder sie helfen der Leserschaft zu einem schlichtweg logischen Ablauf und daher möglicherweise auch verständlicherem Zugang zum «Wort». Es gibt unzählige Arten, sich mit dem Lesen der Heiligen Schrift auseinanderzusetzen. Keine aber ersetzt das eigentliche Lesen. Wir haben oben den Psalm 91 gelesen. Nebst dem 23 Psalm und dem Psalm 104 gehört er gewiss zu den eher bekannteren. Das kommt nicht von ungefähr. Zu sehr treffen seine Worte unser derzeitiges Empfinden, unsere Sehnsüchte und Hoffnungen: «Du bist für mich Zuflucht und Burg, mein Gott, dem ich vertraue» - und «Fallen auch tausend zu deiner Seite, dir zur Rechten zehnmal tausend, so wird es doch dich nicht treffen.» Das sind schon starke Sätze. Und wenn diese dann auch noch im Zusammenhang stehen mit: «Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten, noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt, nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag.» So empfinden wir uns sehr direkt angesprochen. Wir brauchen Schutz und Zuflucht. Wir brauchen jemanden, dem wir in vollkommenster Weise vertrauen dürfen – nicht bloss das Vertrauen in eine Gesichtsmaske und den zwei Metern Abstand. Da muss schon etwas mehr sein. Und wir sehen, wie viele Menschen es weltweit mit der derzeitigen Erkrankung trifft und welches Leid dadurch über unzählige Menschen kommt. Es ist ein Leid, das wir nicht verstehen, nicht deuten können. Ein Leid, dem wir uns in vielfacher Weise zu stellen versuchen. Durch strikte Verhaltensformen, durch Hilfsmittel wie Händewaschen oder, wie oben beschrieben, durch Anziehen einer Gesichtsmaske. Wir bleiben Zuhause. Wir schützen uns und unsere Mitmenschen. All dies versuchen wir, so gut, wie wir es können. Und doch kann uns niemand mit letzter Sicherheit sagen: «Du kommst davon. Es wird dich nicht treffen, und wenn Tausende neben dir fallen.» So dürfen wir den Hinweis des Psalmbeters auch nicht missbrauchen. Aber wir schliessen uns seinem unbedingten Glauben an und seiner Hingabe im Vertrauen zu Gott. Dieser möge uns weiterhin behüten und schützen. Er möge seine schützende Hand über unsere Lieben halten, über die Einsamen, über die Kranken und Sterbenden. Und weit darüber hinaus. Er möge auch all jene behüten und beschützen, die es nicht so gut haben wie wir es nach wie vor noch immer geniessen dürfen mit unseren vollen Kühlschränken, unseren weichen Betten, unserem sauberen Wasser und unserem tragenden und dichten Dach. Er möge all jenen Kraft schenken, die sich für uns einbringen, die wir Zuhause sind. Er möge ihnen den langen Atem schenken, den sie brauchen, um uns als Gesellschaft über diese Durststrecke durchzutragen. Und er – unser aller Gott – möge uns Wege zeigen, wie wir ihn neu entdecken dürfen. In dieser Entdeckung dürfte ein Vielfaches der Erkenntnis eines Weges zum Heil zu finden sein. Auf dass wir voller Freude auch den Psalm 8 beten können – «Herr, unser Herrscher, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde».
Guido I. Tomaschett
Diakon
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