Beim Lesen des Psalms 71 wird der Leser hingeführt zum Vers: «Belebe mich neu, führe mich herauf aus den Tiefen der Erde!» Ja, die Tiefen der Erde tun sich derzeit auf, so mögen wir es empfinden. Ein schrecklicher Schlund, der damit droht, uns hinunterzuziehen. Mitunter kommt es uns vor, als spürten wir den Boden dieser unheimlichen Tiefe. Doch schon ein einfacher Blick über die Landesgrenzen hinaus zeigt streng gesehen: dieser Boden ist noch weit entfernt. Niemand hier steht vor der unsäglichen Aufgabe, darüber entscheiden zu müssen, wer in den nächsten Stunden überleben darf und wer nicht. Wer an das Beatmungsgerät darf und wem es verneint wird. Die meisten Menschen unseres Landes dürften sich bei einer vernünftigen Betrachtung sicher fühlen. Niemand ist ganz verlassen. Niemand ganz vergessen. Noch immer ist genügend Platz in den Spitälern und Notfallstationen. Nach wie vor kein Grund zur Panik. Spanien hingegen erlebt in diesen Tagen schwere Stunden in denen genau dies geschieht. In den Monaten März und April des Jahres 2020 ist über viele Länder dieser Erde eine unheimliche Stille eingekehrt. Normalerweise von Leben strotzende und nie zur Ruhe kommende Strassen und Gebäude stehen leer da. Der Alltagslärm wie weggezaubert. Eine jegliche Hektik verschwunden. Die Menschen unsichtbar. Und doch ist der Mensch da, in seinen Häusern und Wohnungen – mit seiner Angst, mit seinen Fragen und mitunter verborgen hinter einer Gesichtsmaske. Er begegnet in der durch diese äusseren Umstände aufgezwungenen Stille und eingeschränkter Bewegungsfreiheit Neuem. Dieses Neue ist nicht eigentlich «neu». Es ist vielmehr etwas bisher wenig Begegnetes, wenig Gefördertes und schon gar nicht Gelebtes: Die Begegnung mit der Stille. Die Begegnung mit sich selbst. Das sich Stellen müssen letztlich auch den grossen Sinnfragen des Lebens. Und dies auszuhalten ist dann nicht einfach, wenn es ungeübt daherkommt. Unerwartet. Uneingeladen. Die Heilige Schrift, und darin unter anderem auch die Psalmen, können als eine Stütze erlebt werden, diesem Sein, das nach Worten sucht, einen Namen zu geben. Dem Hörenden wird eine Hand geboten. Er und sie erfahren im Mitbeten, dass sie nicht allein unterwegs sind. Sie erfahren, dass Gott den Menschen nicht fallen lässt. Der Psalm 71 beginnt mit der Bitte: «Herr, ich suche Zuflucht bei dir. Lass mich doch niemals scheitern! Reiss mich heraus und rette mich in deiner Gerechtigkeit, wende dein Ohr mir zu und hilf mir! Sei mir ein sicherer Hort, zu dem ich allzeit kommen darf.» Vielleicht ist es tatsächlich etwas vom Schwierigsten im Leben eines Menschen: das Loslassen. Dieses sich in andere, unbekannte Hände fallen zu lassen. Doch jeder, der dies im Vertrauen auf Gott tun konnte, wird mit dem Psalmisten beten: «Gott in seinem Heiligtum ist voll Majestät, Israels Gott; seinem Volk verleiht er Stärke und Kraft. Gepriesen sei Gott.»
Guido I. Tomaschett Diakon
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